Urlaub auf Rädern

CC BY-NC-ND Ulrich Scharfenort / ulrics Ja.png

Das Leben ist selten einfach und hält viele Überraschungen bereit. Natürlich wäre es auch langweilig, wenn es anders wäre. Wobei ich nicht unbedingt jede Überraschung haben muß. Bei einem ziemlich unglücklichen Unfall habe ich mir vor wenigen Wochen beide Beine gebrochen. Bis zum Knie steckte ich in Gips und konnte mich nicht auf Krücken bewegen. Ich war auf einen Rollstuhl angewiesen.

Der Arzt hatte mir Ruhe empfohlen. Allerdings gab es da ein Problem. Schon vor einiger Zeit hatte ich einen Urlaub gebucht. Das Hotel war als Treffpunkt für Singles weithin bekannt und so war auch ich guter Hoffnung, dass sich der nicht gerade billige Urlaub lohnen würde.

Das würde nun wohl nichts mehr geben. Im Rollstuhl war eine derartige Reise natürlich nicht machbar. Ein Anruf bei meinem Reisebüro belehrte mich eines Besseren.
„Guten Tag. Mein Name ist Peter Kahlert. Ich wollte meine Reise stornieren.“
„Einen Moment bitte.“
Anscheinend suchte die Frau am anderen Ende der Leitung gerade meine Unterlagen raus.
„Eine Stornierung ist zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich. Leider haben Sie keine Reiserücktrittsversicherung abgeschlossen, sodass Sie kein Geld zurückbekommen würden.“
„Aber ich kann den Urlaub doch gar nicht antreten, weil ich einen Unfall hatte und nun im Rollstuhl sitze.“
„Einen Moment.“
Sie schien wieder in ihrem schlauen Computer zu schauen.
„Laut den Hotelunterlagen ist es für Rollstuhlfahrer geeignet. Somit greift ein eventuelles Sonderrücktrittsrecht in diesem Fall nicht.“
Etwas resigniert verabschiedete ich mich und brachte noch ein nicht ganz ernst gemeintes Danke für die Auskunft raus.

Ich müsste also nicht nur die Zeit im Krankenhaus verbringen, weil meine Wohnung für einen Rollstuhl absolut ungeeignet war und dafür auch noch zahlen, sondern bekam nicht einmal das Geld für die Reise zurück.

Meine Stimmung sank auf ein absolutes Tief. Missmutig lag ich den Tag im Bett. Mit Fernsehen und Laptop versuchte ich mich von dem ständig wachsenden Juckreiz unter dem Gips abzulenken. Kein Schmerz ist schlimmer als ein derartiger Juckreiz.

Es waren ja noch ein paar Tage bis zur Reise. Vielleicht fand ich jemand, der sie mir abkaufen wollte. Ich gab also eine entsprechende Kleinanzeige auf und hoffte auf das Beste.

Leider vergingen die Tage viel zu schnell und es gelang mir nicht, jemanden zu finden. Jeden Tag nach dem Training mit dem Rollstuhl, um diesen zumindest rudimentär bedienen zu können, schaute ich ins Netz. Immer mit der Hoffnung, dass jemand an meiner Stelle die Reise antreten würde.

Es fand sich kein ernst gemeintes Angebot und für 100 Euro würde ich diese Reise bestimmt niemanden ‚verschenken‘.

Wenige Tage vor der Reise hatte sich noch immer niemand gemeldet. Aus meinem Bekanntenkreis fand sich auch niemand. Sobald ich den Preis erwähnte, verschwand jegliches Interesse.

Eine der Krankenschwestern riet mir schließlich, den Urlaub selbst anzutreten. Zuerst war ich skeptisch, aber je mehr ich darüber nachdachte, desto sinnvoller schien es mir. Ich war eh noch eine Weile krankgeschrieben und der ‚Urlaub‘ täte mir gut.

Die Planungen wenige Tage vorher waren natürlich nicht so einfach. Erst einmal musste ich schauen, wie ich überhaupt hinkam. Mit einem Auto wäre die Reise sicherlich einfacher gewesen, aber leider fand ich hier niemanden, der Zeit hatte. Nur für den Rückweg bot sich der Carsten an.

Ein Taxi wäre bei der Entfernung einfach zu teuer, also blieb nur noch die Bahn für die Hinfahrt. „Das wird bestimmt ein großes Abenteuer und gibt ihnen vielleicht sogar eine neue Perspektive“, überzeugte mich schließlich Schwester Ursula beim morgendlichen Waschen.

Die Bahn war gar nicht so schlecht aufgestellt für eine Fahrt mit dem Rollstuhl. Per Internet reservierte ich eine Fahrkarte und nahm Kontakt mit der Mobilitätsservice-Zentrale auf. Dieser Zentrale schilderte ich meine Reiseroute und Details zum Rollstuhl und bekam kurz darauf die Bestätigung, dass alles arrangiert würde.

Die Reise würde von einer S-Bahnstation nahe dem Krankenhaus starten und mich dann über den Hauptbahnhof direkt zum Zielbahnhof führen. Aus meiner Erfahrung mit Fernreisen hatte ich 40 Minuten Umsteigezeit einkalkuliert, was hoffentlich reichen würde.

Das Gepäck hatten meine Eltern für mich aufgegeben, wodurch es schon vor Ort sein würde, wenn ich ankam. Den Weg zum Bahnhof wollte ich aber alleine schaffen. Hilfe anzunehmen war mir noch nie leichtgefallen und ich hatte in der letzten Zeit schon viel zu oft Hilfe in Anspruch nehmen müssen.

Auf dem Hinweg zum S-Bahnhof hatte ich leider völlig meine Kraft und Ausdauer überschätzt, denn es war schwieriger als gedacht, über die Borsteinkanten zu rollen, geschweige denn den Rolli den Berg hochzubekommen. Ein wenig verschwitzt hatte ich es dann endlich zum Aufzug runter zu den Gleisen geschafft. Als der Fahrstuhl unten ankam, sah ich gerade noch, wie die S-Bahn abfuhr.

„Verdammt“, fluchte ich ziemlich laut. Die geplante S-Bahn hatte ich wohl verpasst. Ich hoffte bloß, dass mir noch genügend Zeit blieb. Mir blieb nichts anderes übrig als an die Infosäule zu rollen und zu fragen. Der Fahrplan hing leider viel zu hoch, so dass ich die Abfahrtszeiten dort nicht sehen konnte.

Die nächste S-Bahn erwischte ich. Früher war ich immer genervt, wenn ein Rollifahrer in die S-Bahn einstieg. Nun fühle ich die Blicke der anderen auf mir lasten. Dort stand ich im Fahrradbereich, was mir ein rüpelhafter Radfahrer auch direkt verleiden wollte. Dabei war der Bereich auch für Rollstühle gedacht. Meine Argumente konnten ihn nicht überzeugen und er ging sogar zu Drohungen über. Ich war froh, als ich am Hauptbahnhof endlich draußen war.

Allerdings hatte ich mich zu früh gefreut, denn hier war der Fahrstuhl kaputt und niemand von der Bahn wartete auf mich. Da hier nicht wenig Gedränge war musste ich ein wenig warten und konnte dann erst eine Infosäule suchen. Ohne Aufzug musste der Mitarbeiter Bahn mit mir die Gleise überqueren, wodurch ich meinen Anschluss verpasste und nun eine Stunde warten durfte. Mein Sparticket wurde mir glücklicherweise angepasst, wobei der Schalter keineswegs für Rollstuhlfahrer geeignet war.

Nach dieser kleinen Odyssee kam ich mit einiger Verspätung am Zielort an. Ein Bahnsteig mitten im Nirgendwo, bei dem ich schon froh sein konnte, dass ich überhaupt raus kam. Eigentlich sollte mich hier jemand vom Hotel abholen, beim Umsehen konnte ich aber niemand entdecken, der auf mich wartete.

Nachdem auch die letzten Passagiere weg waren stand ich ziemlich alleine am Eingang zum Bahnhof. Dieses Gefühl des Alleinseins war schon unangenehm.

Mir blieb wohl nichts anderes übrig, als das Hotel anzurufen und zu fragen, wo mein Abholer blieb. Ich zog mein Handy aus der Jackentasche und wie konnte es anders sein, es fiel mir runter.

Da lag es nun auf dem Boden nur wenig Zentimeter von meiner Hand entfernt und ich kam einfach nicht dran. Aufstehen konnte ich nicht und weit genug rüberbeugen auch nicht. Insbesondere mit der Windel war dies ziemlich unangenehm. Mürrisch wartete ich in der Hoffnung, jemand würde kommen. Es kamen einige, allerdings gingen diese einfach vorbei. Sie ignorierten mich und reagierten nicht auf Ansprachen. Erst eine junge Türkin erkannte meine Notlage und hob mein Handy auf.

Eine halbe Stunde später ging die Reise weiter zum Hotel. Das Auto war nicht wirklich für einen Rollstuhl geeignet und mehr als einmal befürchtete ich, umzukippen. Einen Unfall hätte ich wohl kaum überlebt. Ich war jedenfalls froh, als wir endlich da waren und ich ausgeladen wurde.

Das Fahrzeug und der Fahrstil hatten Zweifel bei mir geweckt, ob das Hotel wirklich für Menschen auf Rädern geeignet war. Eine Rampe sah ich schon, allerdings schaffte ich die Steigung nicht ohne Hilfe. Das konnte ja heiter werden.

Endlich in der Eingangshalle drin schaffte ich es mich mit schon müden Armen zur Rezeption zu rollen, an welcher der Portier stand. Die Eintragung gestaltete sich ein wenig schwierig, denn ich kam nicht dicht genug dran. Die Beine samt Knie hielten mich auf Abstand. Um die Anmeldung auszufüllen, musste ich mich seitlich zum Tresen positionieren und unangenehm drehen.

Dann bekam ich endlich meine Schlüsselkarte und konnte zum Aufzug in die dritte Etage. Der Aufzug Marke ‚Schmitz und Söhne‘ war ziemlich eng und ließ mir keine Möglichkeit zum Wenden, um die Tafel zu bedienen. Dies hieß wohl, ich muß rückwärts den Fahrstuhl verlassen, denn dieser Aufzug hatte nur eine Tür.

Mit erheblicher Anstrengung schaffte ich es, das Bedienfeld zu erreichen und die „3“ zu drücken. Schon jetzt schmeckte mir der Aufenthalt wenig bis gar nicht. Ob das Hotel dachte, mit der Rampe am Eingang sei alles rollstuhlfahrergerecht?

Mit Mühe schaffte ich es den Aufzug zu verlassen, nachdem ich einmal von der Tür eingeklemmt wurde. Dann war ich endlich in meinem Zimmer. Der Rollstuhl hatte so gerade eben durch die Tür gepasst. Ein Zentimeter mehr und ich hätte schauen könne, wie ich ins Zimmer gekommen wäre.

So langsam kamen mir Zweifel an der Aussage aus dem Reisebüro. Hatten die mich zum Narren gehalten, um mir das Geld nicht zurückzahlen zu müssen? Es kam mir fast so vor.

Langsam sah ich mich im Zimmer um. Das Badezimmer war ziemlich eng. So eng, dass ich mich fragte, wie vom Rollstuhl auf die Toilette kommen sollte. Ich rief also den Zimmerservice an. „Vom Reisebüro wurde mir gesagt, sie wäre rollstuhlfahrergerecht, aber mein Badezimmer ist viel zu eng.“

„Für Rollstuhlfahrer haben wir im Erdgeschoss eine Toilette und Dusche.“ Es klickte in der Leitung. Die Rezeption hatte einfach aufgelegt.

Langsam dämmerte mir, dass der Antritt dieses Urlaubs wohl doch keine so gute Idee gewesen war. Die Bilanz für mein Zimmer war katastrophal. Der Schreibtisch war zu niedrig und zu kurz. Die Duschwanne konnte nicht einmal annähernd als Barrierefrei bezeichnet werden und das Bett war zu niedrig. Wobei die Duschwanne wohl kein Problem darstellen dürfte, da ich ohnehin nicht duschen konnte.

Die Zeit hier würde für mich ziemlich anstrengend werden. Erholung sah anders aus. Vorsichtiger als zuvor zog ich mein Handy hervor.
„Hallo Gustav, hier Peter. Du hattest angeboten mich abzuholen.“
„Ja?“ Sein Tonfall klang fragend misstrauisch und gern bat ich nicht um diesen Gefallen.
„Könntest du mich bereits morgen abholen?“
Gustav musste erst einmal überlegen.
„Ja aber erst am späten Nachmittag.“
Wir verabredeten uns für den nächsten Nachmittag. Einen Tag in dem Hotel würde ich überstehen müssen.

Inzwischen hatte sich meine Laune nicht nur verschlechtert, zu allem Überfluss knurrte mir auch noch der Magen. Wieder zwängte ich mich in den Aufzug und überwandt die Etagen. Am Empfang erkundigte ich mich nach einem Restaurant und ich bekam eine Empfehlung. Auf der Straße erwarteten mich die üblichen Probleme, wie zu schmale Gehwege, die teilweise sogar noch langsam zuwucherten. Auch parkten einige Autos sehr ungünstig und die Kanten waren gar nicht abgesenkt.

Das Restaurant hatte wenigstens eine vernünftige Rampe und die Tür war auch für Rollstuhlfahrer ausgelegt. Das Essen schmeckte mir gleich um einiges besser, wenngleich die Preise sich eher an den Touristen orientierten.

Auf dem Rückweg kämpfte ich mit denselben Problemen, wie zuvor. Ich war froh im Zimmer zu sein, wo ich mich nach der einfachen Wäsche und Zähneputzen nur noch aufs Bett quälen musste. Gerade als ich auf dem Bett war, fiel mir ein, dass ich eigentlich noch ein wenig Fernsehen schauen könnte, allerdings war dieser nicht an und auch die Fernbedienung nicht in Reichweite.
„Hätte ich mir vorher überlegen sollen“, seufzte ich laut zu mir selbst. Auch ohne Fernsehen schlief ich irgendwann trotz juckender Beine ein.

Am nächsten Morgen offenbarten mir sich beim Frühstück die nächsten Hindernisse. Vieles an dem doch recht umfangreichen Buffet stand viel zu weit hinten und so außer meiner Reichweite. Und die Tische waren definitiv nicht für Rollstuhlfahrer gemacht. Sie hatten einen Mittelsteg, der sicherlich schon für normales Sitzen problematisch wäre, aber mit Rollstuhl einen ziemlichen Abstand zum Tisch notwendig machte.

Letztendlich drehte ich mich seitwärts und aß zwar unbequem, aber zumindest nicht zu weit vom Tisch entfernt. Während ich das Frühstück aß, dachte ich daran, wie ich nun mein Geld zurückbekommen könnte. Das würde sicherlich nicht so einfach werden, aber verarschen lassen würde ich mich auch nicht.

Mit Erleichterung dachte ich daran, dass mein Rollstuhlaufenthalt nicht für immer sein würde. Ich nahm mir fest vor, in Zukunft mehr daran zu denken, wie es jenen erging, die täglich mit den für einige scheinbar unbedeutenden Hürden zu kämpfen hatten.

(Veröffentlicht in Kompass 2014.1)

Dieser Beitrag wurde unter Kurzgeschichte abgelegt und mit , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Hinterlasse einen Kommentar